Gemeinsam waren wir umwerfend

Die Szene lebt: Von der Westberliner Alternativbewegung der siebziger und achtziger Jahre blieb mehr, als man denkt

Nicht nur auf der Ostalgie-Welle wird zurzeit geritten. Filme wie "Verschwende deine Jugend" oder "Liegen lernen" huldigen dem subkulturellen Untergrund im Westen der achtziger Jahre, der nirgends so lebendig war wie im eingemauerten Berlin. Und der bis in die Gegenwart wirkt.

Nach dem "Deutschen Herbst" 1977 erschien bundesweit der "Aufruf zum Aufbruch nach Tunix". Tunix war in Berlin. Das Motto war von den Gebrüdern Grimm entliehen: "Komm mit, sprach der Esel, etwas Besseres als den Tod finden wir überall …" mit dieser märchenhaften Radikalität zogen latzbehoste Jugendliche mit ihren selbst gebatikten T-Shirts in den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrtausends in Scharen aus der Provinz an die Spree. Und wie im Märchen von den Stadtmusikanten kamen sie zwar nicht an ihr angepeiltes Ziel, aber unterwegs gelang es ihnen, durch pures Erschrecken ein paar Räubern das Haus wegzunehmen.

Wir wollten nicht so abgehalftert werden wie die Alten, die ein Leben lang den Sack zur Mühle geschleppt hatten und sich dafür noch prügeln ließen. Wir wollten wie der Esel, der Hund, die Katze und der Hahn das Leben selber in die Hand nehmen, gemeinsam aus dem kaputten Alltag ausbrechen.

Wahrscheinlich hatte es schon früher angefangen. Vielleicht beim "Ölpreisschock". Eines schönen Sonntags 1973 durfte auf dem Kudamm kein Auto fahren. Man kam staunend, um sich dieses Wunder anzusehen. Irgendjemand brachte einen Ball mit und flugs spielten einander wildfremde Städter mitten auf der Straße Fußball. Ein tolles Erlebnis. Das Auto, kleines Glück und Droge des arbeitenden Menschen, an dem mindestens jeder Dritte mit Herz, Hirn und Arbeitsplatz hing, hatte aus Mobilität Dauerstau in Köpfen und Kreuzungen erzeugt. Jetzt holten wir die Straße zurück. Für ein paar Stunden blitzte auf, dass ein anderes Leben möglich war. Ein Anfang. Es musste gar nicht so "politisch" sein. Wie die Besetzung des Georg-von-Rauch-Hauses. Aber eins wurde klar: Wir können auch anders. Alternativ! Und es bringt Spaß.

Das einbetonierte Berlin, lange larmoyantes Opfer seiner Geschichte, wurde Zentrum von etwas Neuem, lag darin international bedeutend etwa gleichauf mit Städten wie London, New York, Amsterdam oder auch Zürich. Sogar der Osten gehörte in gewisser Weise mit dazu. Es war eine Lebenshaltung, die vor dem "Eisernen Vorhang" nicht halt machte: Besetzer. Am Prenzlauer Berg waren es zwar eher einzelne Wohnungen als ganze Häuser. Es war nicht so spektakulär, weil das Eigentum einen anderen Wert hatte. Aber es schien, als hätten die harten staatlichen Autoritäten die Kontrolle verloren über meist junge Menschen, die sich einfach nahmen, was man sonst in dieser Welt nicht so einfach bekommt: einen Teil der Stadt, die Straße, Immobilien. Und über die Immobilien war gleichsam Bewegung in eine ansonsten ziemlich erstarrte und ratlose Gesellschaft gekommen. Eine Gesellschaft, die das Ende des Kalten Krieges wohl kommen sah, aber noch nicht verstand, was da auftaute und aus den Häuser- und Verteidigungsblöcken aufbrach.

Wie mit der Kraft, die Pilze durch den Asphalt treibt, drängte eine Szene ans Licht, die der Erstarrung in der Kälte des Krieges den Kampf angesagt hatte. Es ging gegen Betonfraktionen. "Schade, dass Beton nicht brennt" war die Parole, die wie das Fahndungsplakat an der Tanke zu jedem Neubaubunker gehörte.

Wir waren seinerzeit mit den "3 Tornados" unterwegs. Kabarett haben das manche genannt. Aber Kabarett, das waren für uns Sozialdemokraten im Rollkragenpullover, für die Politik das war, was in den ersten zwanzig Seiten im "Spiegel" abgehandelt wurde. Wir waren da, wo die Leute ihre Politik selber machten. Wir waren unterwegs zu Hüttendörfern, die irgendwo im Wald aufgebaut waren, um eine neue Betonpiste zu verhindern, einen Flughafen, ein Kraftwerk oder eine Autobahn. Und wir ärgerten uns bei den Reisen zwischen den Epizentren des Protests natürlich über jeden fehlenden Autobahnkilometer auf dem Weg zum Widerstand gegen die Betonkultur. Es ging ein bisschen Richtung Tauschwirtschaft: Als Gage winkte schon mal ein Blech Pflaumenkuchen oder wir brachten noch ein Fass Bier mit. Auf jeden Fall gab es neue Geschichten über die Szene, die wir dann wieder in Szene setzten und in die Hauptstadt trugen, nach Westberlin.

Nachdem die Arbeiterklasse Anfang der Siebziger unseren Aufrufen nicht gefolgt war und die Revolution deswegen erst mal verschoben werden musste, betraten wir einen selbst gemachten – quasi dritten Weg zwischen Pest- und Rostzone. Wir fingen einfach an. Das gewann natürlich sofort groteske Züge. Eine Bewegung, die mit der Weltrevolution den aufrechten Gang anstrebt und binnen kurzem über die Hacke gebeugt bei der Hinterhofbegrünung landet, kann nicht ohne komische Momente sein. Aber Ironie und vor allem Selbstironie, das hatten wir den Betonköpfen voraus.

Manches löste sich in Rausch auf. Vielleicht war vielen auch nicht klar, dass der Aufruf zum Aufbruch in diesem Märchen von einem alten Esel kam. Und überhaupt: Hund, Katze, Huhn und Esel – alle zusammen in einer Wohngemeinschaft? Das konnte nicht lange gut gehen. Das märchenhafte Ziel, so etwas wie Stadtmusikant werden zu können, hatte aber was: Spaß haben, vielleicht nicht die erste Geige, aber auf jeden Fall mitspielen. Manche zogen in die Parlamente und wirkten auf die da ansässigen Räuber zunächst noch schockierend. Heute bestrafen sie die Arbeiter, die uns nicht gefolgt sind, mit der Kürzung von Sozialleistung und Sterbegeld. Ätsch!

Mit dem Mauerfall hatte der gute, alte Kapitalismus wieder eine frische Attraktivität gewonnen. Die Zonis bekamen auch ihre Autos zum Mitspielen und ließen sich dafür zur Mühle treiben. Manche entdeckten, dass man Häuser nicht nur besetzen, sondern auch besitzen kann und dass es wirklich Stellen bei der Stadt gibt für Leute, die dafür nicht geeignet sind. Und unsere am Kampf um die Abwaschordnung in der Wohngemeinschaft rhetorisch geschulten Politiker setzen sich in der globalisierten Welt für eine neue Ordnung ein. Die Szene lebt!

© Berliner Morgenpost, 14.09.2003

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